1923 eröffnete in der Kantstraße das erste chinesische Restaurant Deutschlands!
Wer durch Berlin-Charlottenburg flaniert, wird ihr unweigerlich begegnen. Die Kantstraße ist keine Straße wie jede andere. Sie ist Bühne und Spiegelbild, Schmelztiegel und Zeitmaschine. Zwischen Breitscheidplatz und Amtsgerichtsplatz entfaltet sie auf gut zweieinhalb Kilometern eine faszinierende Mischung aus Großstadtleben, Weltkultur und kulinarischem Kosmos. Wer hier entlanggeht, spürt: Berlin erzählt an dieser Stelle besonders viele Geschichten.

Vor allem eine prägt den Charakter der Straße wie kaum etwas anderes: die außergewöhnliche Dichte an asiatischen Restaurants, Märkten und kleinen Läden. Ganze 55 asiatische Betriebe habe ich persönlich gezählt und das allein auf dem Abschnitt zwischen Amtsgerichtsplatz und Savignyplatz. Es duftet nach frischen Kräutern, nach gebratenem Knoblauch, nach Garküchen in Hanoi und Straßengrills in Bangkok. Zwischen Neonlichtern und Straßenlärm begegnet man Suppenschalen voller Pho, kunstvoll drapierten Sushi-Kompositionen, dampfenden Dumplings und gegrilltem Fleisch auf Spießen.

Die Kantstraße wird deshalb längst liebevoll als „Chinatown Berlins“ bezeichnet. In den 1970er Jahren, so erzählte mir einst Peter Rebsch, damaliger Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, hatte ein chinesischer Gastronom sogar den Wunsch geäußert, die Straße offiziell in „Chinatown“ umzubenennen. Eine Idee, die damals vielleicht belächelt wurde, heute aber fast visionär wirkt. Denn was sich seither entwickelt hat, ist ein einmaliges Beispiel für kulturelles Miteinander, kulinarische Exzellenz und urbane Vielfalt.

Wo Geschichte auf Sojasauce trifft
Schon in den 1920er Jahren lebten hier chinesische Studierende, viele von ihnen in direkter Nachbarschaft zur damaligen Technischen Hochschule. Sie brachten nicht nur ihre politischen Ideen mit nach Berlin, sondern auch ihre kulinarischen Traditionen. 1923 eröffnete in der Kantstraße 130b das erste chinesische Restaurant Deutschlands: das legendäre „Tientsin“. Es wurde rasch zum Treffpunkt von Intellektuellen, Diplomaten und Literaten, ein Ort, an dem Poesie und Pekingente aufeinandertreffen konnten.
Die Nähe zur Diplomatie war kein Zufall: Bereits 1909 eröffnete das chinesische Konsulat in der Kantstraße 71. In den Folgejahren wandelte sich der Ort zur Gesandtschaft, später zur Botschaft. In einer Stadt, die mehr als einmal Schauplatz weltpolitischer Umbrüche wurde, war die Kantstraße eine stille Konstante internationaler Beziehungen. Erst mit dem Umzug nach Berlin-Mitte im Zuge der Anerkennung der Volksrepublik China endete dieses Kapitel – doch die Erinnerung daran lebt weiter.

Auch nach dem Krieg blieb die Straße ein Fenster nach Asien. In den 1950er und 60er Jahren führte Hak-Ming Yue die berühmte „Hongkong-Bar“, die weit mehr war als nur ein Restaurant. Sie war Treffpunkt, Zufluchtsort, Symbol für kosmopolitisches Denken in einer Stadt, die damals geteilt war, aber nie ihren Hunger nach Welt verlor.


Zwischen Reisnudeln und Erinnerungen
Viele Lokale entlang der Kantstraße erzählen Geschichten, wenn man ihnen zuhört. Das „Do De Li“ in der Kantstraße 120 serviert seit Ende der 1990er Jahre Spezialitäten aus Yunnan – aromatisch, ehrlich, unverfälscht. Die Betreiberin Xiao Ying Du erzählt, dass hier einst der spätere chinesische Ministerpräsident Zhou Enlai zu Gast gewesen sei, damals noch ein junger Mann in Berlin. Auch der Berliner Spitzenkoch Tim Raue schätzt das Haus vor allem den Reisnudeleintopf, wie er einmal in einem Berliner Zeitung- Interview verriet. Und er sagte etwas, das den Geist dieser Straße treffender nicht einfangen könnte: „Der Deutsche zeigt seinem Gast sein Auto und sein Haus. Der Chinese zeigt ihm das beste Restaurant, das er kennt.“

Urban, kantig, köstlich – und voller Kontraste
Doch die Kantstraße ist weit mehr als ein asiatisches Restaurantviertel. Sie ist das pulsierende Herz eines Kiezes, der sich nicht entscheiden will und gerade deshalb so spannend ist. Zwischen Asia-Märkten, Altbauten und Verkehrslärm stehen das Kant-Kino, das Stilwerk, charmante Cafés, Szene-Bars und traditionelle Lokale einträchtig nebeneinander. Wer von der Wilmersdorfer Straße aus zum Savignyplatz läuft, erlebt eine Reise durch Zeiten und Kulturen, durch Gewürze und Geschichten.


Auch gastronomisch zeigt sich die volle Bandbreite. Es gibt Bibimbap bei „Son Kitchen“, vietnamesische Rindfleischsuppe bei „Uudam“, kantonesische Klassiker im „Good Friends“ und modernes japanisches Fine Dining im „893 Ryotei“, einem der vielen Konzepte des Berliner Gastronomen Duc Ngo, der die Kantstraße maßgeblich geprägt hat.


Eine Straße, die mehr ist als Asphalt
Vielleicht ist es gerade diese Mischung aus Geschichte, Kulinarik, Internationalität und alltäglicher Berliner Direktheit, die die Kantstraße so besonders macht. Sie ist kein inszeniertes Szeneviertel, kein glatt polierter Touristenmagnet. Sie ist roh, lebendig, voller Gegensätze, ein Ort, an dem das echte Berlin greifbar wird.

Wer Lust hat, der Hauptstadt mal auf eine andere Art zu begegnen, wer gern mit offenen Augen durch die Stadt geht und sich überraschen lässt, wer Essen liebt und Geschichten mag, sollte die Kantstraße nicht nur überqueren, sondern begehen. Mit Hunger, Neugier – und Zeit.


Tipp für einen Besuch:
Starte am Amtsgerichtsplatz, tauche ein in die Welt der Düfte, Farben und Klänge. Iss dich durch ein paar Restaurants, wirf einen Blick ins Kant-Kino, stöbere durch die Geschäfte, nimm dir einen Moment auf dem Savignyplatz. Die Kantstraße schenkt jedem, der sich auf sie einlässt, etwas anderes und immer etwas Besonderes.

Bilder und Text: Klaus-Dieter Richter



